Der Therapeut

Vorwort

Ich bin kein Therapeut. Ich spiele auch keinen in der Öffentlichkeit. Und doch habe ich in stillen Stunden, auf dem Beifahrersitz des Lebens, angefangen, über diesen seltsamen Raum nachzudenken: das therapeutische Zimmer – jene Bühne zwischen zwei Menschen, auf der gesprochen, geschwiegen, verdrängt und vielleicht geheilt wird.

Dieses Buch verunglimpft keine Therapeutinnen oder Therapeuten. Es bewundert sie – mit leicht schiefem Blick. Ich stelle mir nur vor, wie es wäre, selbst einer zu sein: mit einem Sofa, das mehr weiß als ich, mit Klienten, die mich manchmal durchschauen, und mit einer Sprache, die oft nur um das kreist, was sie nicht sagen kann.

Die Splitter, die folgen, sind keine Fallberichte. Keine Lehrsätze. Keine Diagnosen. Sondern kleine Szenen, Gedanken, Abgründe – aus der Sicht eines imaginären Therapeuten, der mit beiden Beinen fest im Sumpf des Menschlichen steht. Manchmal grotesk, manchmal berührend, oft unentschieden. Zwischen Fragen und Schweigen.

Es geht um Wut und Hoffnung. Um Sprache und Sprachlosigkeit. Um Nähe, die nicht heilt – aber hilft.

Und vielleicht auch ein wenig um uns alle.

O.B.

Einleitung:

Ich stelle mir den Beruf des Psychotherapeuten äußerst schwierig vor. Nicht wegen der ganzen Leidensgeschichten, die man sich Tag für Tag anhören muss – das kriegt man mit stoischer Miene und gelegentlichem „Hm“ wohl irgendwie hin. Nein, was wirklich schwer ist: still sitzen, ohne sich zu räuspern, ohne zu gähnen, ohne aus Versehen „Ach, das auch noch“ zu sagen. Und dann diese Professionalität! Keine Augen verdrehen, keine ironischen Kommentare, keine spontanen Lachanfälle, wenn jemand sagt, er träume jede Nacht von seiner Waschmaschine. Alles muss bedeutungsvoll sein.

Ich sehe mich selbst als eine Art Anti-Freud: halb schlafend, halb fasziniert, permanent überfordert. Ich sitze da mit Notizblock (den ich nie benutze), trage eine Nickelbrille ohne Stärke und antworte auf jede Frage mit einer Gegenfrage, einfach weil ich die Antwort nicht weiß. Mein Lieblingssatz wäre: „Und was macht das mit Ihnen?“ – in allen Lebenslagen. Auch beim Bäcker.

Ich wäre der einzige Therapeut mit einem Wecker auf dem Tisch, nicht für den Patienten, sondern für mich – damit ich nicht zu lange monologisiere über meine eigene Kindheit, die, ehrlich gesagt, auch mal analysiert gehört.

Trotzdem hätte ich eine kleine, treue Klientel: Menschen, die weniger eine Lösung suchen als ein Echo.

Und ein Echo wäre ich.

Ein hallendes, manchmal müdes, gelegentlich zynisches Echo – mit Terminvergabe bis 2029.

Splitter eines Analytikers

I. Das Sofa
Man legt sich hin, schweigt.
Die Worte kommen aus den Wänden.
Ein Husten, ein Lächeln, ein Knarren im Gebälk –
alles deutbar, alles Wunsch.
Der Analytiker notiert:
„Patient schweigt hysterisch.
Die Uhr tickt.
Eine Kindheit stirbt leise im Hintergrund.
Der Therapeut seufzt –
vor Langeweile oder Mitgefühl?
Vielleicht beides.
Vielleicht nur der Kaffee, der nicht schmeckt.

II. Der Vaterkomplex
Ein Mann spricht von seinem Vater,
der ihn nie geschlagen hat –
und das ist das Problem.
Im Traum aber steht der Vater
mit einem Gürtel in der Hand,
aus Cola-Schlangen von Haribo.
Man lacht.
Doch das Lachen friert ein
wie ein altes Familienfoto.
Später dann, im Gehen,
fragt der Patient:
„Darf ich Sie duzen?

III. Todestrieb in der Sprechstunde
Die Dame mit dem Dutt
möchte nicht mehr leben,
aber unbedingt gehört werden.
Sie bringt Pralinen mit,
sagt, sie seien vergiftet –
macht dann ein Scherzchen daraus.
Der Therapeut nickt.
Ambivalenz, denkt er.
Sie sagt, sie wolle ein Kind.
Dann: einen Hund.
Dann: gar nichts.
Dann: eine Zigarette.
Regression, murmelt er,
und zündet sich eine an.